Ohne (17) Ziele keine Zukunft
Von den drei platea2030-Veranstaltungen auf dem Festival dello Sviluppo sostenibile 2023 geht der Aufruf zur Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Italien zu den drängenden Fragen unserer Zeit aus.
Die siebte Ausgabe des Festival dello Sviluppo sostenibile 2023 ist Ende. Nach 17 ereignis- und programmreichen Tagen mit Stationen in Neapel, Bologna, Milano und Turin ist der zentrale Festivalzug in Rom angekommen, wo die Ergebnisse am 24. Mai in einer großen und festlichen Abschlussveranstaltung in der Abgeordnetenkammer vorgestellt wurden.
Unter den sieben „Compagni di viaggio“ durfte platea2030 mit der dreiteiligen Serie „Deutsch-italienische Dialoge für nachhaltige Entwicklung“ einen besonderen Platz im Festivalzug einnehmen. Dafür sei an dieser Stelle ausdrücklich Dank: Diese Auszeichnung zeigt, welche Bedeutung dem deutsch-italienischen Dialog und der Zusammenarbeit unserer beiden Länder im Zeichen der Agenda2030 zukommt.
In diesem Sinne war das Festivalprogramm von platea2030 konzipiert und tatsächlich konnten wir mit unseren drei Events viele neue Perspektiven eröffnen und Potentiale und Wege für eine weiterführende und vertiefende Zusammenarbeit ausmachen.
Am 9. Mai haben wir mit einem „Tanz auf dem Vulkan“ das Thema Bildung für nachhaltige Entwicklung aufgegriffen (SDG 4). Es ist aus unserer Sicht ein zentrales, denn erst mit dem Wissen um den prekären Zustand der Welt und um die Möglichkeiten der Veränderung, mit der Bewusstwerdung der eigenen Verantwortung und Fähigkeiten, der Entwicklung einer kritischen und lösungsorientierten Haltung im Menschen, in jedem von uns, kann die große Gemeinschaftsaufgabe der sozialen, ökonomische und notwendigerweise auch politischen Transformation im Sinne der Agenda 2030 gelingen.
Im Rahmen der Online-Veranstaltung, die von der Vereinigung der deutsch-italienischen Kulturgesellschaften, VDIG e.V., und deren Initiative Oli – omaggio alla lingua italiana. Wir lieben Italienisch unterstützt wurde, haben wir diverse Ansätze und Initiativen vorgestellt und kennengelernt, die uns dieser Zielsetzung näherbringen können:
Deeper Learning, eine innovative, ursprünglich aus den USA stammende Bildungsidee und Pädagogik, „in der Lernende sich tiefgreifend mit Wissen auseinandersetzen und selbst Wissen generieren, indem sie es sowohl über instruktiv gesteuerte Prozesse der Aneignung als auch über selbstregulierte Prozesse der Ko-Konstruktion und Ko-Kreation verarbeiten“. In Deutschland wird Deeper Learning federführend an der Heidelberg School of Education erforscht und vermittelt und findet langsam auch Eingang in die schulische Praxis.
So am Gymnasium an der Gartenstrasse in Mönchengladbach, wo diese Methode inzwischen erfolgreich praktiziert wird. Treibende Kraft dahinter: Luigi Giunta, seit 2020 Leiter der Schule. Er hat einleitend den Ansatz nähergebracht, anschließend haben drei Schüler des Projektkurses Q1 „Vulkanismus“ die Ergebnisse einer Exkursion vorgestellt, die sie im Januar 2023 zusammen mit ihrem Lehrer, Claus Rink, von Haus aus Vulkanologe und Mitinitiator des Projekts, nach Neapel und auf den Vesuv geführt hat. Entlang eigenständig erarbeiteter Vorträge und Präsentationen haben sie ihre Erfahrungen, Eindrücke und Erkenntnisse geschildert und damit unter Beweis gestellt, wie erfolgreich Projektarbeit im Zeichen von Deeper Learning sein kann.
Anschließend stand ihnen Domenico Cecere aus Neapel für Fragen zur Verfügung. Als Researcher an der Universität Federico II und Mitbegründer der internationalen Forschungsgruppe DisComPoSE (Disasters, Communication and Politics in Southwestern Europe: the Making of Emergency Response Policies in the Early Modern Age) untersucht er in historischer Perspektive die Zusammenhänge zwischen der Verbreitung von Nachrichten über Naturkatastrophen, der Verarbeitung von Informationen über solche Ereignisse und der Entwicklung von Notfallmaßnahmen. Es mag ernüchternd sein, und ist doch überaus lehrreich, sich zu vergegenwärtigen, dass die Menschheit auch aus den schlimmsten Katastrophen der Vergangenheit kaum bleibende Lehren zieht, um neuen Desastern vorzubeugen. Heute, da Wissen und Information sich dank Alphabetisierung, des technologischen Fortschritts und der Digitalisierung so viel schneller verbreiten können, haben wir indes die Chance, diesen unheilvollen Kreislauf von Verdrängung und Vergessen zu brechen. Das ist eine der Kernaufgaben der Bildung für nachhaltige Entwicklung.
Die deutsch-italienische Perspektive von Bildungsarbeit hat uns im folgenden Kurzvortrag Josephine Löffler, Leiterin des Büros VIAVAI, illustriert, indem sie die vielfältigen Projekte und Programme vorstellte, die diese einzigartige, vom deutschen und italienischen Außenministerium gemeinschaftlich getragene Initiative zur Förderung des deutsch-italienischen Jugendaustauschs bietet. VIAVAI fungiert im Wesentlichen als Informationsplattform sowie Vernetzungs- und Beratungsstelle für junge Menschen zwischen 15 und 30 Jahren, darunter Schüler, Studierende, junge Akademiker, Auszubildende und junge Berufstätige. Darüber hinaus erarbeitet VIAVAI gemeinsam mit den Partnern (darunter auch platea2030) auch eigene neue Formate wie deutsch-italienische Jugendaustauschprojekte und Workshops, Podcasts oder kulturelle Events wie einen deutsch-italienischen Poetry Slam.
Schließlich hat Maria Chiara Pettenati, Direktorin der Forschungsabteilung für Innovation in italienischen Schulen am Institut Indire (Istituto Nazionale di Documentazione, Innovazione e Ricerca Educativa), in dieser Funktion auch Mitglied der ASviS Arbeitsgruppe SDG4 und Mitbegründerin des Blogs Next Generation Schools bei FUTURAnetwork die beeindruckende Arbeit dieser italienischen Einrichtungen und Akteure vorgestellt.
In der abschließenden Diskussion mit Luigi Giunta haben wir die Ergebnisse der rund zweistündigen Veranstaltung zusammengetragen. Auch wenn angesichts chronisch knapper Budgets die Arbeit in den diversen Bereichen der Bildung (Schule, Hochschule, Berufs- und Erwachsenenbildung) eine Herausforderung ist und bleibt, das Beispiel so vieler positiver und innovativer Initiativen macht Mut und zeigt in die richtige Richtung: Bildung, kultureller Austausch und internationale Zusammenarbeit – eben auch ausgehend von der bilateralen Ebene – sind von fundamentaler Bedeutung für die Schaffung und Sicherung von Frieden und Wohlstand in der Welt (SDG 16, 17)
Zwei Tage später, am 11. Mai, haben wir mit Experten aus beiden Ländern einen deutsch-italienischen „Dialog Nachhaltige Stadt“ geführt (SDG 11, in Anlehnung an ein Programm des deutschen Rat für Nachhaltigkeit). Das Event fand im Rahmen der zweiten Etappe des Festivals in Bologna statt nur wenige Tage, bevor die Region von fürchterlichen Unwettern und Überschwemmungen überzogen wurde. In der Katastrophe zeigt sich in erschütterndem Maße wie wichtig es ist, den Gedanken der Nachhaltigkeit und des Umweltschutzes in die Stadt- und Landschaftsentwicklung einzubringen. Von wegen Tanz auf dem Vulkan! Wir Menschen haben durch den Raubbau an der Natur, blinden Konsum und ein eindimensionales, nicht nachhaltiges Wirtschaftswachstum (zur Alternative der Kreislaufwirtschaft siehe unten), aus unserer Welt ein Pulverfass gemacht. Der Klimawandel ist nur die dramatische und lebensbedrohende Folge.
Die Katastrophe zeigt auf erschütternde Weise, wie wichtig es ist, den Gedanken der Nachhaltigkeit und des Umweltschutzes in die Stadt- und Landschaftsentwicklung einzubringen. Und dass Solidarität notwendig und möglich ist, auch über Ländergrenzen hinweg: Deutsche und Italiener unterstützen sich in solchen Situationen gegenseitig und zeigen damit die gute und solide Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern.
In diesem Geist steht auch eine inspirierende Initiative der beiden Staatsoberhäupter Frank-Walter Steinmeier und Sergio Mattarella, der wir unsere Veranstaltung vom 11. Mai widmen möchten: Die beiden Präsidenten haben in diesem Jahr erneut den deutsch-italienischen Städtepartnerschaftspreis ausgelobt, um „die gelebte Freundschaft zwischen Kommunen in Deutschland und Italien weiter zu stärken und dabei zu helfen, sie auch auf Zukunftsthemen auszurichten“. Derzeit werden die Bewerbungen geprüft; der Preis wird im September verliehen. Prämiert werden Projekte, die den gegenseitigen Austausch, insbesondere von jungen Menschen, zivilgesellschaftliches Engagement, europäische Integration und nicht zuletzt nachhaltige Entwicklung fördern.
Diese Zielsetzungen decken sich auch mit dem Engagement für nachhaltige Entwicklung in Stadt von ASviS, das Luigi Di Marco, Mitglied des Generalsekretariats, vorgestellt hat: beginnend mit der in 2017 verabschiedeten Carta di Bologna per l’Ambiente, über diverse spezifische Analysen und Berichte (Agenda urbana per lo sviluppo sostenibile, Agenda 2.0 per lo Sviluppo sostenibile della Città di Bologna) bis zu den Jahresberichten und den seit 2020 erstellten Berichten mit regionalem Fokus (Rapporto Territori).
Im Folgenden hat Jens Hoffmann, COO bei LAND Srl, einem der international führenden Büros für nachhaltige Stadt- und Landschaftsplanung und Architektur, unter dem Stichwort „Creating livable space for a sharing society” den innovativen und ganzheitlichen Ansatz des Unternehmens erläutert: ausgehend von der Natur selbst, der Analyse und Morphologie des Ortes und unter Einbeziehung einer breiten Datenlage gestaltet LAND seit 1990 lebenswerte und nachhaltige Lebensräume.
Die Key Note von Christine Lemaitre, Geschäftsführender Vorstand der Deutschen Gesellschaft für nachhaltiges Bauen, DGNB e.V., über die wir bereits in unserem Blog berichtet haben, führte den Gedankengang konsequent fort. Unter dem Titel „Klimapositive Stadt“ stellte sie die Arbeit des international vernetzten Vereins, Europas größtem Netzwerk für nachhaltiges Bauen, vor. Über den World Green Building Council ist der DGNB im Übrigen bereits heute mit dem Green Building Council Italia (GBC Italia) verbunden. In ihrem Vortrag schilderte Lemaitre die komplexe Problemlage (Stichwort: McDonalidisierung der Welt) und die daraus resultierenden Herausforderungen, den großen Erwartungs- und Handlungsdruck für alle Beteiligten. Angesichts dessen könne nur beherztes Handeln Lösungen schaffen: „Wir sind alle im gleichen Team der Autodidakten“, erklärte Lemaitre und mahnte, keine Zeit zu verlieren. Es gehe darum, zügig Wissenskreisläufe zu schließen, die Zusammenarbeit zu intensivieren, pragmatische Lösungen zu finden und Anzufangen!
Wie Städte in der Praxis die nachhaltige Transformation gestalten, erläuterte Stefan Wagner, Leiter des Amts für Internationales und Globale Nachhaltigkeit bei der Stadt Bonn. In seinem Kurzvortrag schilderte er die Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesstadt und illustrierte deren Umsetzung anhand einzelner Maßnahmen. Bonn beherbergt nicht nur zahlreiche internationale Organisationen, allen voran die Vereinten Nationen, darunter das Klimareferat UNFCCC und die SDG Action Campaign, die Stadt selbst engagiert sich aktiv für Nachhaltigkeit und die SDGs. Sie ist in internationalen Netzwerken tätig wie Eurocities, ICLEI (Local Governments for Sustainability) oder UCLG (United Cities and Local Governments) und pflegt darüber hinaus zahlreiche internationale Städtepartnerschaften. Darunter besteht im Übrigen auch eine Partnerschaft zwischen dem Stadtbezirk Bad Godesberg mit Frascati in Italien. Und es sei hinzugefügt, dass in Bonn auch das Fachbüro für den deutsch-italienischen Dialog, der Projektträger von platea2030, ansässig ist.
Den Abschluss der Serie der Deutsch-italienischen Dialoge beim Festival dello Sviluppo sostenibile 2023 bildete am 17. Mai der Dialog Kreislaufwirtschaft (SDG12) und damit schloss sich auch inhaltlich der Kreis: Wer das Festivalprogramm bis hierher verfolgt hatte, konnte feststellen, welche Relevanz das Thema in Italien hat. Nur einen Tag zuvor, am 16. Mai, war etwa die fünfte Ausgabe des Nationalen Reports zur Kreislaufwirtschaft, erarbeitet vom italienischen Circular Economy Network, veröffentlicht und präsentiert worden, der das Land als führend in Europa in punkto Recycling und Kreislaufwirtschaft ausweist – trotz allgemein rückläufiger Tendenzen.
Wie es um das Thema in Deutschland steht, haben die folgenden Vorträge gezeigt.
Nach einem Grußwort des Generalsekretärs des deutschen Rat für nachhaltige Entwicklung, Marc-Oliver Pahl, hat Susanne Lottermoser, Leiterin der Abteilung Transformation – Digitalisierung, Circular Economy, Klimaanpassung im Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz in Berlin, die Nationale Kreislaufwirtschaftsstrategie der Bundesregierung erläutert. Erklärtes Ziel ist, die Transformation von Produktions- und Konsummustern zu beschleunigen. Notwendig sei dafür ein tiefgreifender Perspektivwechsel und die Verankerung des zirkulären Gedankens über die gesamte Wertschöpfungskette, so wie es auch im „Aktionsplan der EU für die Kreislaufwirtschaft“ festgelegt ist. Die Strategie soll im Jahr 2024 dem Kabinett zur Beschlussfassung vorgelegt werden. Der Prozess wird wissenschaftlich begleitet.
Und so folgte in unserem Programm der Vortrag von Henning Wilts, Leiter der Abteilung Kreislaufwirtschaft am Wuppertal Institut und einer der führenden Experten Deutschlands für das Thema. Er nannte die Punkte, auf die es wesentlich ankomme wie die Reduktion des Primärrohstoffverbrauchs, die Substitution von Schadstoffen oder deren Überführung in sichere und transparente Kreisläufen. Es brauche zudem eine globale Perspektive, Innovationen beim Produktdesign, neue Geschäftsmodelle und nicht zuletzt eine größere gesellschaftliche Akzeptanz.
Dass hier noch ein weiter Weg vor uns liegt, machte der Impuls von Elio Narducci, CEO von ITKAM, deutlich. Die italienische Handelskammer für Deutschland unterstützt und berät vor allem italienische KMU und, wie Narducci mit Bezug auf den Circular Economy Report 2022 des Politecnico di Milano referierte, diese stünden dem Gedanken der Kreislaufwirtschaft heute mehrheitlich noch fern und hätten vielfach keine Absicht, entsprechende Maßnahmen in der Zukunft einzuführen. Und das, obwohl die Lieferketten der beiden Länder in zahlreichen Branchen eng verknüpft sind und mithin nicht nur ein großes Potential, sondern unter dem Aspekt von Berichtspflichten und des neuen Lieferkettengesetzes auch ein gewisser Handlungsdruck gegeben ist.
Wertvoll in diesem Zusammenhang waren die Beiträge von Luigi Di Marco vom Generalsekretariat ASviS, der die Position und das Engagement der Allianz bezugnehmend auf die kürzlich erstellten Studien, Policy Briefs und Positionspapiere erläuterte sowie von Samir de Chadarevian, Forschungsdirektor bei GIST und Mitglied der ASviS-Arbeitsgruppe „Nachhaltige Städte und Gemeinden“. Er wies auf die großen Chancen des Austauschs und der Zusammenarbeit im Bereich der Indikatoren hin, die auf kommunaler und regionaler Ebene zur Messung des Fortschritts bei der Verwirklichung der 17 Ziele verwendet werden, sowie auf die Herausforderung der Multi-Level-Governance und der Mobilisierung und Einbeziehung der Gemeinschaften.
Das abschließend vorgestellte Beispiel zeigt jedoch, dass Kreislaufwirtschaft in der unternehmerischen Praxis möglich und erfolgreich ist: Timothy Glaz, Leiter Corporate Affairs bei Werner & Mertz, stellte die langjährige Arbeit des Unternehmens im Sinne des Prinzips „cradle to cradle“ und die hauseigene Recyclat Initiative vor. Mit Innovationsgeist, Hingabe und maximaler Transparenz ist hier ein erfolgreiches Geschäftsmodell gewachsen, das seit Jahren das Vertrauen der Verbraucher genießt.
Und darauf kommt es schließlich an: Ohne die gesellschaftliche Akzeptanz und Mitwirkung wird die soziale und ökologische Transformation nicht gelingen. Die Serie der „Deutsch-italienischen Dialoge für nachhaltige Entwicklung“ im Rahmen des Festival dello Sviluppo sostenibile 2023 hat in diesem Sinne Impulse gesetzt und Potentiale aufgezeigt. Es liegt an uns, die Aufgaben gemeinsam anzugehen und die Zukunft zu gestalten.